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Aus Chemie und Wahnsinn:

De Senectute - Vom Greisenalter

.....und vom Krieg und vom Gift und leider auch von Helmut Schoeck

"Wer hat es bemerkt? Die gute Nachricht dieser Woche - Verleihung des Chemie-Nobelpreises an den Heidelberger Professor Georg Wittig -enthielt eine zweite Nachricht. Auch Sie war gut: Wittig ist 82 Jahre alt und allem Anschein nach bei bester Gesundheit."

Schreibt Helmut Schoeck in der "Welt am Sonntag" (WamS) vom 21.10.1979 und hebt an zu philosophieren: "Hängen Laborluft und langes Leben irgendwie zusammen? Ist die Chemie - Angriffsziel Num­mer 2 der grün-linken Front bei der Behinderung aller Entwicklungen in den Zukunftstechnologien in der Bundesrepublik - aufs Ganze gesehen vielleicht gar nicht so ungesund, wie es die "Seveso ist überall"-Agita­tion unterstellt?"

Helmut Schoeck weiß seine These von der vitalisierenden Kraft der Chemie durchaus zu belegen. Dr. Stoltzenberg, so mutmaßt er, hat in seinem Labor wohl kaum "die Sorg­falt geübt, die in seiner Fabrik seit 1923 gefehlt hat." Vielmehr muß er doch "mit aggressiven Chemikalien aller Art getränkt gewesen sein, als er mit 90 starb."

Manche mögen Gifte nicht

Vergessen wir mal jene, die ebenfalls von den aggressiven Chemika­lien des Dr. Stoltzenberg naschten und - erstaunlicherweise - trotzdem ein vorzeitiges Ende fanden: den Jungen aus Hamburg-Eidelstedt et­wa oder die 10 Toten des Phosgen-Unglücks von 1928. Jene Äthiopier, die in den 30er Jahren durch Stoltzenberg'sche Qualitätschemie umkamen - verspritzt von den italienischen Besatzungstruppen des Herrn Mussolini - diese Opfer also braucht man eh nicht erst zu vergessen; niemand hierzulande hatte je Notiz genommen von ihrem Sterben.

Die paar Toten beiseite geschoben und weiter gelesen, was der WamS-Kolumnist folgert aus dem langen Leben der Doctores: "All das" - der 82jährige Wittig und der 90jährige Stoltzenberg - "paßt nicht zum Bild von der Chemie, mit der uns seit zehn Jahren die Wissenschaft verekelt werden soll, die wie keine zweite den Ruf Deutschlands als Wissenschaftsnation in der Welt begründete."

Ein guter hält's aus... und um die andern ist's nicht schad

Der schlaue Herr Helmut hat noch mehr Beweise auf Lager: "Priestley, der im 18. Jahrhundert die Chemie der Gase entwickelte, wurde 71. Avogadro, der sie fortführte, starb 1856 mit 80. Was müssen die beiden an Gasen (!!! W. H.) alles eingeatmet haben... Im 19. Jahrhundert, als es mit der Chemie richtig losging, erreichten ihre Großen meist ein hohes Alter."

Und holt zum letzten entscheidenden Schlag aus, der Herr Schoeck: "Kann das Zufall sein? Oder spricht es nicht eher dafür, daß die heutige Angst vor dem Molekül (!!! W. H.) die Tauglichkeit der menschlichen Natur maßlos unterschätzt?"

Mensch, Moltke! Alter Krieger!

Jetzt werd ich Ihnen mal was erzählen:

     von jenem Götz von Berlichin­gen nämlich, der ein Raubritter und Kriegsmann war, zeit seines Lebens, und - anders als bei Goethe - im 82sten Lebensjahre verschied

     von Josef Wenzel Graf von Radetzky, österreichischer Feldmarschall und Namensgeber eines Tschingderassabum-Ever­greens, gestorben im Alter von 92 Jahren

     von Helmut Graf von Moltke, der in den Geschichtsbüchern als  preußischer Generalfeldmarschall geführt wird und 91 Jahre über die Erde lief, ehe man ihn vergraben mußte

     von Paul von Beneckendorff und von Hindenburg, der trotz dieses Namens eine einzige Person war, als solche preußischer Generalfeldmarschall war und schließlich im 87sten Jahre den Löf­fel abgab

     von Mao Tse Tung, dem Erfinder des Guerillakrieges, der es immerhin auf 83 Jahre brachte

     und schließlich noch von Louis Earl Mountbatten of Burma, unter anderem auch britischer Admiral, welcher - die Erinnerung ist noch frisch wie eine irische Frühlingsbrise - im 79sten Lebensjahre verschieden wurde

Ein bißchen Krieg hält jung

Hängen Pulverdampf und langes Leben irgendwie zusammen? Ist der Krieg auf's Ganze gesehen vielleicht gar nicht so ungesund, wie es die "Nie-wieder-Krieg"-Agitation unterstellt? All das, diese lange Liste von martialischen Greisen paßt nicht zum Bild des Krieges, mit dem uns seit 34 Jahren das Handwerk verekelt werden soll, das wie kein zweites den Ruf Deutschlands als Menschheitsbeglücker in der Welt begründete. Diese vielen, vielen Namen; kann das Zufall sein? Oder spricht es nicht eher dafür, daß die heutige Angst vor dem Schwert, der Kugel, der Bombe die Tauglichkeit der menschlichen Natur maßlos unterschätzt?

Ohne Blödeln: das Verfahren des Herrn Schoeck, vom Greisenalter einer Handvoll Labor-Chemiker auf die Harmlosigkeit der industriell genutzten Chemie zu schließen. ist offensichtlicher Unfug. Zum einen, weil 4 denn doch eine zu geringe Stichprobe ist. Zum anderen und vor allem, weil die Bedingungen, unter denen ein Laborchemiker mit gefährlichen Stoffen hantiert, wohl kaum vergleichbar sind mit jenen der industriellen Massenproduktion. Der Feldherrnhügel des Monseigneur Napoleon ist sicherlich gesünder als der Arbeitsplatz eines seiner Infanteristen.

Gas ist Gas - basta!

Des Schoeckens logischer Schluß, daß nämlich die chemische Indus­trie - einem Super-llja-Rogoff gleich - Vitalkraft verspritzt über uns alle, Chemiearbeiter und sonstige Emissionsschlucker, wäre selbst dann nicht stichhaltig, wenn seine Voraussetzung stimmen würde. Was sie nicht tut: mit Gasen hatten Priestley und Avogadro schon viel zu tun, das unbenommen, haben sie sich doch um ihre Entdeckung, Beschreibung und daraus folgende Theoriebildung verdient gemacht. "Was müssen die beiden an Gasen alles geschluckt haben..." (Schoeck)

Sauerstoff zum Beispiel, den Priestley (neben den meisten anderen wichtigen Gasarten unserer alltäglichen Umwelt) entdeckt hatte. Oder Stickstoff und Wasserstoff (und wiederum Sauerstoff), an deren Beispiel Avogadro seine Theori­en über Atomgewichte, Molvolu­men etc. experimentell nachwies. Aber natürlich: Gase. So wie auch Gelbkreuz, TCDD (Seveso-Gas), Tabun oder Lost Gase sind. Wenn der eine Mensch sein Leben lang Gase schluckt - Sauerstoff z. B. - und keinen Schaden dabei nimmt, so werden - verdammt noch mal! - auch andere Menschen in der Lage sein, Gase zu schlucken - TCDD z. B.; evtl. auftretende Veränderungen - verätzte Haut, verätzte Lungen, nach einigen Tagen schließlich Ver­wesung - kann der erfahrene Gas-Arzt ohne Zögern als subversive Simulation grün-linker Wühler und Hetzer diagnostizieren.

Gefährliche Frischluft

Aber der Wittig, gell, wenigstens der, hat mit gefährlichen Substanzen gearbeitet und ist trotzdem steinalt geworden? Oder?

Wollen mal so sagen: Georg Wittig hat in erster Linie mit phosphororganischen Verbindungen zu tun gehabt. Diese Gruppe von Verbindungen hat die Stubenhocker-Eigenschaft, daß sie so recht keine frische Luft verträgt. Die Wittig'sche Reaktion etwa (Teil der Vitamin A-Synthese) muß in einer Stickstoff-Atmosphäre stattfinden, weil unter Lufteinwirkung das ganze Zeug sich ziemlich plötzlich zersetzen würde. Strengste Beachtung der Sicherheitsvorschriften ist also beim Umgang mit diesen Stoffen sehr wohl vonnöten - nicht um den Chemiker, sondern um die Substanzen zu schüt­zen.

Bleibt von den Zeugen des Herrn Schoeck einzig Herr Stoltzenberg übrig. Jemand, der ohne Zweifel ein Leben lang intimen Umgang mit allerlei aggressiven Stoffen pflegte und trotzdem in biblischem Alter starb. Soll ich jetzt von David erzählen, ja? Dem greisen David, der in Auschwitz war und immer noch lebt? Wenn Sie der Schoeck'schen Schule der Logik anhängen, müßte Ihnen der eine Greis wertvolle Aufschlüsse vermitteln über den Freizeit- und Erholungswert dieses weiland Lagers.