Knast kaputt
            
            
            
            
            
            
            Die folgende Geschichte trug sich bereits in den achtziger 
Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zu, kann also inzwischen aus einer gewissen 
historischen Distanz gesehen werden. Damals jedoch ist der Vorfall von allen 
beteiligten Behörden und Personen erfolgreich vertuscht worden. Noch Jahre 
danach weigerten sich die damit befaßten Spitzenbeamten und Politiker, diese 
Geschichte auch nur zu denken. 
            
            
            
            
            
            
            
            Regierungsdirektor Dr. Kerndl hatte mit der leidigen 
Angelegenheit nur als Opfer zu tun. Für ihn begann das Elend, als er gerade in 
seinem Büro einen amtlichen Bericht diktierte. 
            
            
            
            
            
            
            „...woraus sich - in Ziffern - 11, Klammer auf, 
ausgeschrieben, elf, Ausrufezeichen, Ausrufezeichen, Klammer zu, Hausstrafen 
ergaben komma wovon sechs gravierender Natur waren. Punkt. Eine Strafaussetzung 
zur Bewährung kann deshalb zum derzeitigen Zeitpunkt von seiten der 
Anstaltsleitung nicht befürwortet werden. Punkt. Absatz Hochachtungsvoll Bla 
Bla.“ 
            
            
            
            
            
            
            Dr. Kerndl schaltete das Bandgerät aus und lehnte sich 
zufrieden in seinen Bürosessel zurück. „Sodala“, seufzte er behäbig. 
            
            
            
            
            
            
            Eine halbe Minute Ruhe war ihm vergönnt, dann quakte die 
Sprechanlage. 
            
            
            
            
            
            
            „Herr Dr. Kerndl“, flötete seine Sekretärin, „Herr Laschinger 
vom Ordnungsamt ist jetzt da.“ 
            
            
            
            
            
            
            Resigniert drückte Dr. Kerndl auf die Sprechtaste. „Ich lasse 
bitten.“ 
            
            
            
            
            
            
            „Ein Besuch vom Ordnungsamt“, sagte er zu seinem Gast, als 
beide Platz genommen hatten, „ist kein alltägliches Ereignis bei uns.“ 
            
            
            
            
            
            
            „Auch für mich ist es das erste Mal“, stimmte Herr Laschinger 
zu. „Ich hatte noch nie mit dem Gefängnis zu tun. Beruflich nicht, geschweige 
privat.“ 
            
            
            
            
            
            
            „Dann wurde es ja Zeit“, lachte Dr. Kerndl. „Abgesehen davon 
heißt es nicht ‘Gefängnis’.“ 
            
            
            
            
            
            
            „Sondern?“ 
            
            
            
            
            
            
            „JVA.“ 
            
            
            
            
            
            
            Herr Laschinger schaute irritiert. „Jott-Vau-Ah?“ 
            
            
            
            
            
            
            „Justizvollzugsanstalt.“ 
            
            
            
            
            
            
            „Ah, ja.“ 
            
            
            
            
            
            
            Herr Laschinger kramte einen Schnellhefter aus seiner 
Aktentasche und schlug ihn auf. 
            
            
            
            
            
            
            „Wenn ich recht unterrichtet bin“, begann er, „so ist Ihr 
Gef..., Ihre Justizvollzugsanstalt mit 600 Gefangenen belegt.“ 
            
            
            
            
            
            
            „Richtig.“ 
            
            
            
            
            
            
            „Alles Männer?“ 
            
            
            
            
            
            
            Dr. Kerndl stützte die Ellbogen auf die Schreibtischplatte. 
„Fast. Abgesehen von einigen weiblichen und jugendlichen 
Untersuchungsgefangenen.“ 
            
            
            
            
            
            
            „Unter diesen 600 Gefangenen sind sicher auch 
Drogensüchtige?“ 
            
            
            
            
            
            
            Dr. Kerndl seufzte. „Etliche, ja.“ Sein Seufzer wurde tiefer. 
„Zu viele. Viel zu viele.“ 
            
            
            
            
            
            
            „Auch Fixer?“ 
            
            
            
            
            
            
            „Meist Fixer.“ 
            
            
            
            
            
            
            Mit seinem Kugelschreiber hakte Herr Laschinger die 
erhaltenen Informationen ab. 
            
            
            
            
            
            
            „Wer es sich von den Fixern leisten kann, der nimmt sicher 
auch innerhalb des..., der Justizvollzugsanstalt Drogen?“ 
            
            
            
            
            
            
            In Dr. Kerndls Stirn grub sich eine tiefe Unmutsfalte. „Herr 
Laschinger: Jeglicher Konsum von 
Drogen innerhalb einer JVA ist ver-bo-ten.“ 
            
            
            
            
            
            
            Herr Laschinger lächelte. „Mir scheint, ein Gutteil der 
Häftlinge muß Ihre Gastfreundschaft deshalb in Anspruch nehmen, weil auch 
außerhalb des Gefängnisses der Konsum von Drogen verboten ist.“ 
            
            
            
            
            
            
            „Schon, schon“, wandte Dr. Kerndl ein, „aber innerhalb einer 
JVA...“ 
            
            
            
            
            
            
            Herr Laschinger unterbrach ihn energisch. „Herr Dr. Kerndl, 
ich bin Beamter wie Sie. Wir brauchen uns also nicht mit Beschönigungen 
aufzuhalten.“ 
            
            
            
            
            
            
            „Nun ja...“ Dr. Kerndl hüstelte. 
            
            
            
            
            
            
            „Wie jede andere JVA auch können Sie den Drogenschmuggel in 
die Anstalt höchstens eindämmen, nicht jedoch verhindern. Richtig?“ 
            
            
            
            
            
            
            „Nun, freilich. Das eine oder andere Heroinbriefchen wird 
wohl den Weg durch unsere - im übrigen sehr strengen - Kontrollen finden.“ 
            
            
            
            
            
            
            Herr Laschinger hakte in seinem Schnellhefter auch diese 
Information ab. „Ich darf wohl ferner davon ausgehen, daß Sie an Ihre 
heroinsüchtigen Gefangenen keine sterilen Einwegspritzen ausgeben?“ 
            
            
            
            
            
            
            „Wo denken Sie hin?“ empörte sich Dr. Kerndl. „Natürlich geben wir keine 
Einwegspritzen aus.“ 
            
            
            
            
            
            
            „Das heißt, die einsitzenden Fixer drücken sich unsaubere 
Spritzen in die Venen, wobei diese Spritzen oft von mehreren Süchtigen 
gemeinsam benutzt werden, weil eine Spritze hier drin selten und also kostbar 
ist. Korrigieren Sie mich bitte, wenn ich was Falsches sage.“ 
            
            
            
            
            
            
            „Nein, nein. Alles korrekt bisher. Leider.“ 
            
            
            
            
            
            
            „Gut. Damit wäre Punkt 1 geklärt. Zu Punkt 2: Sie haben hier 
sicher auch einige Homosexuelle einsitzen?“ 
            
            
            
            
            
            
            Dr. Kerndl lachte, froh über den Themenwechsel. „Einige, ja. 
Ein paar echte Homosexuelle und viele Verlegenheitsschwule.“ 
            
            
            
            
            
            
            „Verlegenheitsschwule?“ Herr Laschinger schaute 
irritiert. 
            
            
            
            
            
            
            „Verlegenheitsschwule nennen wir jene, die sich - aus Mangel 
an anderen Möglichkeiten - erst im Gefängnis auf homosexuelle Aktivitäten 
verlegt haben. Nach der Entlassung hören sie meist schnell wieder damit auf. 
Wieder andere verdienen sich mit homosexuellen Gefälligkeiten schlicht eine 
schnelle Mark.“ 
            
            
            
            
            
            
            Herr Laschinger nickte verstehend. „Echte Homosexuelle, 
Verlegenheitsschwule und Strichjungen; da kommt eine Menge an homosexuellem 
Verkehr zusammen, der sich hier abspielt, nicht?“ 
            
            
            
            
            
            
            „Ja, leider.“ Die kalte Sachlichkeit, mit der dieser Mensch 
sein Gefängnis beschrieb, behagte Dr. Kerndl immer weniger. 
            
            
            
            
            
            
            Herr Laschinger aber bohrte weiter. „Kann man sagen, daß 
dieser homosexuelle Geschlechtsverkehr in der Regel eher brutal als zärtlich 
ist?“ 
            
            
            
            
            
            
            Nun mußte Dr. Kerndl doch lachen. „So kann man sagen, in der 
Tat.“ 
            
            
            
            
            
            
            „Es gibt vermutlich auch homosexuelle Vergewaltigungen 
hier?“ 
            
            
            
            
            
            
            Was zuviel ist, ist zuviel. 
            
            
            
            
            
            
            „Meine Beamten“, protestierte Dr. Kerndl energisch, „achten sehr streng darauf, daß so etwas nicht 
passiert.“ 
            
            
            
            
            
            
            „Aber es passiert?“ fragte der gnadenlose Bürokrat 
weiter. 
            
            
            
            
            
            
            „Es passiert, bestätigte Dr. Kerndl zähneknirschend. „Hin und 
wieder.“ 
            
            
            
            
            
            
            „Häufiger als draußen?“ 
            
            
            
            
            
            
            „Hören Sie, Herr Laschinger: Das ist ein Gefängnis, kein 
Sanatorium. Hier sind eine Menge Leute auf engstem Raum zusammengesperrt. Und es 
sind nicht immer die Feinsten der Gesellschaft. Sie können nicht 
erwarten...“ 
            
            
            
            
            
            
            „Häufiger also als draußen“ faßte Herr Laschinger Dr. Kerndls 
Protest zusammen. 
            
            
            
            
            
            
            „Kann sein“, knurrte Dr. Kerndl. 
            
            
            
            
            
            
            Herr Laschinger nickte zufrieden. „Punkt 2 wäre also auch 
geklärt.“ 
            
            
            
            
            
            
            Nun war es genug. Dr. Kerndl richtete sich in seinem Sessel 
auf. Immerhin war er Regierungsdirektor, dies hier war sein eigenes Büro und - 
dies vor allem! - hatte er sich in seiner Amtsführung nichts vorzuwerfen. 
            
            
            
            
            
            
            „’Punkt 1’, ‘Punkt 2’, ‘Fixer’, ‘Schwule’. Können Sie mir 
jetzt endlich sagen, wieso sich das Ordnungsamt für solche Dinge 
interessiert?“ 
            
            
            
            
            
            
            „Das Ordnungsamt interessiert sich nur sekundär dafür. 
Vielmehr hat uns das Gesundheitsamt gebeten, im Zuge der Amtshilfe zu ermitteln 
und gegebenenfalls einzuschreiten.“ 
            
            
            
            
            
            
            „Gesundheitsamt?“ rief Dr. Kerndl irritiert. „Und was heißt 
‘ermitteln’, was ‘einschreiten’?“ 
            
            
            
            
            
            
            Herr Laschinger beendete rasch einen Eintrag in seiner Akte, 
ließ die Kugelschreibermine zurückschnippen und wandte sich dann wieder Dr. 
Kerndl zu. 
            
            
            
            
            
            
            „Einschreiten“, sagte er sanft, „heißt in diesem Fall, das 
Lokal zu schließen.“ 
            
            
            
            
            
            
            Dr. Kerndls Nackenhaare begannen sich aufzurichten. Irgendwas 
war falsch an diesem Tag. Grundfalsch. 
            
            
            
            
            
            
            „Das Lokal schließen“, flüsterte der Anstaltsleiter 
tonlos. 
            
            
            
            
            
            
            Er griff nach seiner Tasse und spülte sich mit einem letzten 
Schluck Kaffee die trocken gewordene Kehle wieder geschmeidig. 
            
            
            
            
            
            
            „Habe ich richtig verstanden: Sie wollen dieses Gefängnis 
schließen?“ 
            
            
            
            
            
            
            Herr Laschinger nickte. „Schließen und den Betrieb 
einstellen.“ 
            
            
            
            
            
            
            Dr. Kerndl blickte nach oben, dorthin, wo nach allgemeiner 
Ansicht ein Guter Gott wohnen müsse. „Der spinnt“, stammelte er. „Der ist total 
verrückt.“ 
            
            
            
            
            
            
            Mit allem Sarkasmus, dessen er angesichts der Sachlage noch 
fähig war, höhnte er: „Sie wollen also sämtliche Gefangenen in Dosen verpacken 
oder einfrieren oder nachhause schicken?“ 
            
            
            
            
            
            
            „Ganz recht“, antwortete ihm Herr Laschinger ruhig. „Ich 
werde die Gefangenen und das Wachpersonal nachhause schicken.“ 
            
            
            
            
            
            
            „Das geht nicht!“ schrie Dr. Kerndl gequält auf. „Das können 
Sie nicht! Das ist ab-so-lut 
un-mög-lich!“ 
            
            
            
            
            
            
            „Es geht, ich kann und es geschieht eben.“ 
            
            
            
            
            
            
            „Was?“ 
            
            
            
            
            
            
            „Eine Hundertschaft der Bayerischen Bereitschaftspolizei ist 
eben dabei die Zellen zu öffnen und eine ordnungsgemäße Evakuierung der 
Justizvollzugsanstalt durchzuführen.“ 
            
            
            
            
            
            
            Richtig! Da waren Geräusche zu hören, draußen auf dem Flur, 
im Verwaltungstrakt, vor allem aber aus den Zellentrakten kommend. Geräusche, 
die Dr. Kerndl bisher nicht weiter registriert hatte. Eine zunehmende Unruhe, 
die sich hörbar verstärkte. Ein Getrappel und Türengeöffne, ein Rufen und Lachen 
und dazwischen immer wieder heiser gebrüllte Befehle. 
            
            
            
            
            
            
            „Und wer“, keuchte der Anstaltsleiter mit letzter Kraft, 
„gibt Ihnen das Recht zu all dem?“ 
            
            
            
            
            
            
            „Die Bayerische Staatsregierung.“ 
            
            
            
            
            
            
            „Die Bay.., Bay...“ Dr. Kerndls Kiefermuskulatur verkrampfte 
sich, er preßte die Zähne aufeinander. 
            
            
            
            
            
            
            Herr Laschinger blätterte eifrig suchend in seinen Unterlagen 
und zog nun das Gefundene heraus. 
            
            
            
            
            
            
            „Ich beziehe mich auf die ‘Bekanntmachung des Bayerischen 
Staatsministeriums des Innern’ vom 19.05.1987  (), 
Aktenzeichen: IE-5280-8,2/7/87, die Bekämpfung der Immunschwächekrankheit AIDS 
betreffend.“ 
            
            
            
            
            
            
            Freundlich reichte Herr Laschinger Dr. Kerndl eine Kopie der 
betreffenden Bekanntmachung. „Unter Punkt 9 heißt es dort wörtlich: ‘Wird dem 
Gesundheitsamt bekannt, daß Einrichtungen die Weiterverbreitung von HIV’ - 
das ist das AIDS-Virus - ‘begünstigen, so ist das der Kreisverwaltungsbehörde 
mitzuteilen, damit sie Maßnahmen nach dem ... allgemeinen Sicherheitsrecht 
treffen kann. Wenn die Weiterverbreitung des Virus nicht anders zu verhindern 
ist, sind solche Einrichtungen zu schließen. Als Einrichtungen, welche die 
Weiterverbreitung des HI-Virus begünstigen, kommen z. B. in Betracht: 
...Lokale, die Treffpunkt homosexueller männlicher Prostitution sind oder der 
Unsittlichkeit Vorschub leisten...’. Soweit der Text der Verordnung. Wie Sie 
vorhin so deutlich sagten, begünstigt Ihre Justizvollzugsanstalt die 
Weiterverbreitung von HIV ganz erheblich. Fixer sind in verstärktem Ausmaß auf 
unsterile, notgedrungen gemeinschaftlich genutzte Spritzen angewiesen. Das 
Gefängnis ist ein Hauptzentrum homosexuellen Verkehrs in dieser Stadt, überdies 
ein Sammelpunkt homosexueller Prostitution. Dieser homosexuelle Verkehr ist 
dazu oft recht gewalttätig, was die Weiterverbreitung des AIDS-Virus zusätzlich 
fördert. Des weiteren führen die Vorschriften dieser Justizvollzugsanstalt 
dazu, daß Personen überhaupt erst zum homosexuellen Verkehr angeleitet und 
verführt werden, Ihr Gefängnis also der Unsittlichkeit Vorschub leistet. All 
diese Mißstände lassen sich nicht abschaffen, ohne das Gefängnis selbst 
abzuschaffen. Was ich hiermit im Auftrag der Bayerischen Staatsregierung 
tue.“ 
            
            
            
            
            
            
            Herr Laschinger klappte den Aktendeckel zu, verstaute ihn 
umständlich und sorgfältig in seiner Aktentasche und schloß diese nicht minder 
umständlich und sorgfältig. Dann stand er von seinem Sessel auf. 
            
            
            
            
            
            
            „Auf Wiedersehen, Herr Dr. Kerndl.“ 
            
            
            
            
            
            
            Das Schluchzen, in das Dr. Kerndl verfiel, dauerte in seiner 
akuten Form bis zum Abend und war erst durch eine eigentlich unverantwortlich 
hohe Dosis Valium zu beenden. Die tiefe Schwermut, die daraufhin folgte, konnte 
erst durch monatelange, intensive Psychotherapie einigermaßen aufgebrochen 
werden. 
            
            
            
            
            
            
            * * * 
            
            
            
            
            
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