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Regenstauf, den 9. 6. 1996
konkret-Redaktion
Herrn Wolfgang Schneider
Ruhrstraße 111
22761 Hamburg
 
Abo-Abbestellung
Abo Nr. 0431753300
 
Lieber Herr Schneider,
 
nach der Kündigung meines konkret-Abos im August letzten Jahres schrie­ben mir die Leute von inter-abo, daß es die konkret-Redaktion nett fände, wenn ich ihr, genauer: Ihnen, Herr Schneider, mitteilen wür­­de, warum ich das Abo gekündigt hätte. So sehr mir
[1] dieser Wunsch eingeleuchtet hat, so wenig fand ich ‑ bis jetzt - die nötige Muße für einen solchen Brief, der so kurz dann doch nicht werden kann.
Der Grund für meine Abo-Kündigung ist relativ wenig dramatisch. Es gibt keinen "besonders empörenden Ar­tikel", der mich zur Kündigung getrieben hätte, noch nicht mal einen solchen, der irgendein "Faß des Unmuts" zum Überlaufen gebracht hätte. Und an der politischen Grundhaltung von konkret habe ich schon überhaupt nichts wirklich Substantielles auszusetzen. Im Gegenteil: als wahrscheinlich letzte linke Publikumszeitschrift in Deutschland ist konkret wichtiger denn je.
Es ist eine ­­­­eher stille als zornige Säuernis, die mich - nach jahrelangem Schwanken zwischen zunehmender Verärgerung einerseits und ha­bi­tu­el­ler Trägheit an­de­rer­seits - letztlich doch zur Abo-Kündigung trieb: Im Laufe der Jahre habe ich die Erfahrung gemacht, daß ich ei­nen immer größer werdenden Teil der konkret-Artikel immer we­ni­ger verstehe.
Was ich damit meine erkläre ich Ihnen am besten anhand eines kleinen, eher beliebigen Beispiels aus konkret 03/96, S. 65. "Strange Days" heißt die Kritik des gleichnamigen Films von Kathryn Bigelow, verfaßt hat den Artikel ein gewisser Michael Nauert.

"Der gespannten Erwartung..."

so beginnt die Rezension,

"...folgt Überwältigung und dieser Verwirrung. Wie immer beim Sehen von Bigelow-Filmen."

Hochgespannte Erwartung und am Ende (wie immer!) Verwirrung - das hört sich an wie der Beginn eines bitterbösen Verrisses. Verrisse verlocken zum Weiterlesen - mich jedenfalls.

Ob dafür (für diese Verwirrung) der Zuschauer verantwortlich ist oder der Lieferant der Bilder, wäre eine Frage, die auch in "Strange Days" hätte behandelt werden können.

Was? Ein Film, der sich darum dreht, ob entweder die früheren Filme der Regisseurin wirr sind oder die Leute, die in solche Filme gehen? Einen solchen Film hätte der Nauert gern gesehen? Ob er noch dicht ist, der Nauert? Oder meint er damit ganz was anderes? Den unbestreitbaren Fakt zum Beispiel, daß jeder Film, der irgendwas zum Thema hat, ohne weiteres auch irgendwas ganz anderes hätte zum Thema haben können - meint er das?

Doch dort (im jetzt behandelten Film "Strange Days") sind die Bilder, um die es geht - nämlich 1:1-Aufzeichnungen subjektiver Wahrnehmungen in Extremsituationen -, eindeutig...

Jetzt ganz langsam, zum Mitdenken. Die wichtigen Bilder in diesem Film seien "1:1-Aufzeichnungen subjektiver Wahrnehmungen in Extremsi­­tu­­a­tionen". Was das sein mag? Die unverzerrte (1:1!) Wiedergabe der Wahrnehmungen von Kathryn Bigelow, in dem Moment, wo sie die Kamera auf irgendwas draufhält, kann er kaum meinen, soviel Plattheit mag ich ihm nicht unterstellen. Überdies dürfte das Drehen eines Spielfilms in den seltensten Fällen eine Extremsituation sein.
Aber gut, abgesehen davon: Jahrzehntelang versuchten Medienpädagogen, Filmkritiker und sonstige Wahrnehmungspsychologen mir beizubiegen, daß das, was ich auf einem Filmbild sehe, zwar wahnsinnig echt und authentisch auf mich wirkt, es aber mitnichten ist; gar nicht sein kann, da schon das platte Abfilmen irgendeines Geschehens allein durch die Kameraperspektive das Geschehen subjektiv verzerrt. Und dann kommt Nauert daher und versucht mir einzureden, jemand könnte subjektive Wahrnehmungen 1:1 abbilden.

...eindeutig, im Gegensatz zu ihren Produktions- und Rezeptionsbedingungen in der Illegalität.

Kathryn Bigelow dreht in den USA heimlich (da illegal) Spielfilme, die sich Nauert dann ebenso heimlich und illegal in Deutschland anschaut? Will er mir das einreden? Oder was meint er mit dem Satz?
Und nun den Absatz nochmals als Ganzes:

Doch dort sind die Bilder, um die es geht - nämlich 1:1-Aufzeichnungen subjektiver Wahrnehmun­­gen in Extremsituationen -, eindeutig, im Gegensatz zu ihren Produktions- und Rezeptionsbedingungen in der Illegalität. Was also genau die umgekehrte Form von Komplexität wäre, die das Kino des Hier-und-Jetzt bestenfalls bieten kann.

In dem Film "Strange Days" sind die (wichtigen) Bilder eindeutig, ihre heimliche (da verbotene) Herstellung und Betrachtung aber nicht. Bei der Mehrzahl der sonstigen (meint wohl: kommerziellen) Filme ist dagegen das illegale Herstellen und Anschauen des Filmes eindeutig, während es die Bilder dieser Filme nicht sind. Mit Verlaub, dazu fällt mir nur noch der Spechtgruß ein: Tock und Tock und nochmals Tock.

Als Science-Fiction-Film tritt "Strange Days" aber nicht nur deshalb...

wegen der umgekehrten Form von Komplexität oder wegen ganz was anderem

...auf; kaum weniger dürften vermutlich die Möglichkeiten des Production Designs, die Cyber-Mode oder einfach der Zufall bei Bigelows Entscheidung fürs Genre-Hopping beigetragen haben.

Huh, Klasse, das versteh ich wieder. Nauert meint, es sei möglicherweise nicht die umgekehrte Form von Komplexität die Ursache dafür, daß Bigelow einen Science-Fiction-Film gedreht hat, sondern vielleicht doch die Freude an schicken Klamotten und glitzernder Dekoration. Aber, räumt Nauert großzügig ein, vielleicht ist alles aber auch ganz anders.

Gehypt wird "Strange Days" ebenfalls aus den verschiedensten Gründen.

Gehe ich recht in der Annahme, daß "hypen" irgendwas in der Gegend von "wert­schät­zen" oder "lieben" bedeutet?

Den einen gefällt die Form der Zukunftsvision, den zweiten die Wucht der Bilder, andere begeistern sich für die Auflösungen von Subjekt/Objekt- oder Geschlechterdifferenzen. Letztere sehen allerdings ziemlich ko­misch aus, wenn man sie vor einem Bild der "Zukunft" des Jahres 1999 präsentiert bekommt, dessen klischeehafte Basiselemente brennende Autowracks sowie aufeinander einprügelnde Polizisten und nicht näher bestimmte Demonstranten/Rebellen sind.

Das Bild der "Zukunft" des Jahres 1999 besteht in "Strange Days" demnach im wesentlichen aus Klischees, nämlich brennenden Autowracks [2], aufeinander einprügelnden Polizisten (klopfen sich hier Kriminalbeamte mit Streifenpolizisten?) und irgendwelchen Demonstranten, von denen man aber in dem Film so wenig erfährt, daß es genausogut auch Rebellen sein könnten. In dieser Szenerie lösen sich dann die Unterschiede der Geschlechter auf, irgendwie [3]. Und irgendwelche Zuschauer (wahrscheinlich die, die jedesmal nach anfänglicher Überwältigung am Ende eines Bigelow-Film ungemein verwirrt sind und sich trotzdem auch den nächsten Film von ihr anschauen) freuen sich wahnsinnig drüber.
Hm!

Destabilisierung durch vielseitige Bejahung könnte man die Strategie Bigelows nennen, die inhaltlich und mehr noch formal Bahnbrechendes mit Standardisiertem, Diskreditiertem und Kitschigem zusammenbringt. Doch man wird den beruhigenden Verdacht nicht los, daß dahinter weniger kalkulierte Finessen stehen, sondern ihr einfach eine Menge Zeug gefällt. Das steht sich dann zum Teil ein wenig im Weg, bietet aber andererseits dauernd neue Ansichten, die viel versprechen und wenig halten. Die immer ein bißchen unfertig wirkende, produktive Mehrdeutigkeit dieses aufwendigen Sowohl-als-auch-Kinos läßt sich dabei nicht ohne weiteres vom Werkcharakter vereinnahmen, was dazu führt, daß ein Großteil ihrer Wirkung verpufft, weil jeder Zuschauer sich unwidersprochen um seine Lieblingsaspekte kümmern kann. Das aber sollte weder Bigelows noch unser Problem sein.

Der ganze Film, will Nauert uns sagen [4], ist ein ziemlicher Mischmasch von allem und die Zutaten des Eintopfs heben sich im Großen und Ganzen geschmacklich gegenseitig wieder auf. Aber das macht nichts, weil das Eintopfgericht eh nicht richtig zu Ende gekocht ist und überhaupts...
Und überhaupts ist der Nauert am Ende des Films anscheinend genauso wirr gewesen, wie ich es nach seiner Rezension bin [5].

Ich weiß nicht, lieber Herr Schneider, ob ich Ihnen an diesem Beispiel mein Problem klarmachen konnte. Ich lese eine Filmkritik und habe nach der Lektüre so wenig Ahnung wie vorher, um was es - verdammt noch mal! ‑ in diesem blöden Film
[6] eigentlich geht.
Es mag ja so sein, daß ein wahrer Experte, einer, der "Strange Days" und sämtliche vorausgegangenen Filme der Bigelow gesehen und alle erreichbare Literatur darüber gelesen hat, versteht, was Nauert meint. Nur: warum der dann noch Nauerts Artikel lesen soll...?
Artikel wie diese nähern sich bedenklich dem hermetischen Bezirk der Lyrik, womit ich jene Sorte von Gedichten meine (expressiv nennt man sie wohl), die alles andere tun, als sich selbst zu erklären. Jene, die du nur dann (ansatzweise) verstehen kannst, wenn du einen ganzen Stapel poetologischer und biographischer Sekundärliteratur gelesen hast.
Erinnerungen an irgendwann mal gelesene (und bekicherte) Heidegger-Texte tauchen bei mir auf, mit dem kleinen Unterschied vielleicht, daß in einem Heidegger-Text das großkotzig-dunkle Raunen wesentlich netter und gefälliger wirkt:

Das Zeugsein des Zeuges, die Verläßlichkeit, hält alle Dinge je nach ihrer Weise und Weite in sich gesammelt. Die Dienlichkeit des Zeuges ist jedoch nur die Wesensfolge der Verläßlichkeit. Jene schwingt in dieser und wäre ohne sie nichts. Das einzelne Zeug wird abgenutzt und verbraucht; aber zugleich gerät damit auch das Gebrauchen selbst in die Vernutzung, schleift sich ab und wird gewöhnlich. So kommt das Zeugsein in die Verödung, sinkt zum bloßen Zeug herab. Solche Verödung des Zeugseins ist das Hinschwinden der Verläßlichkeit (....) Die Ruhe des in sich ruhenden Zeuges besteht in der Verläßlichkeit. An ihr ersehen wir erst, was das Zeug in Wahrheit ist. Aber noch wissen wir nichts von dem, was wir zunächst suchten, vom Dinghaften des Dinges. Vollends wissen wir jenes nicht, was wir eigentlich und allein suchen: das Werkhafte des Werkes im Sinne des Kunstwerkes. Oder sollten wir jetzt unversehens, gleichsam beiher, schon etwas über das Werksein des Werkes erfahren haben?

MARTIN HEIDEGGER: Der Ursprung des Kunstwerkes
Reclams Universalbibliothek, Nr. 8446, S. 31 f.

Das ist zwar auch bloß gequirlte Scheiße - aber wie anders gequirlt!
Was mich an Nauerts Text ärgert, ist die rotzfreche Schlampigkeit und Lieblosigkeit, mit der er ihn verfaßt hat. Was ihm im ersten Impuls so ins Hirn kommt, schreibt er auf, läßt das unbearbeitet so stehen und liefert den Text schließlich ab - und die Redaktion nimmt ihm den Text ab. Soll sich doch der Leser selber die Frage beantworten, ob für die dann auftretende Ver­wirrung er selber verantwortlich ist oder der Lieferant der Sätze.
Ironischerweise ist in der März-Nummer von konkret auf der Seite nach dem Nauert-Artikel Gremlizas express plaziert. Ich versuche gar nicht erst, mir vorzustellen, was Gremliza mit Nauerts Artikel gemacht hätte, wenn er in der "ZEIT" gestanden hätte und nicht im eigenen Blatt...
Damit wir uns richtig verstehen, lieber Herr Schneider: Ganz abgesehen davon, daß der Artikel von Michael Nauert im März-Heft stand, meine Abo-Kündigung aber schon im August abging, kann es natürlich nicht dieser eine kleine Artikel gewesen sein, der mir konkret nach 15 Jahren Kiosk-Kauf und 12 Jahren Abo verleidet hat.
Diese kleine Filmkritik steht für viele, viel zu viele andere Artikel, die sich in den letzten Jahren in konkret häufen. Lauter augenzwinkernd kryptische Botschaften von irgendwelchen Insidern an irgendwelche anderen Insider irgendeiner Scene. Unverständlich und also wertlos für den Rest der Welt. Artikel, nach deren Lektüre du dir unheimlich verarscht vorkommst. Verarscht von einem Autor, der sich nicht mal mehr einen Anstandsrest von Mühe mit dir gibt.
Das ist eigentlich alles, lieber Herr Schneider. Trotz meines Gemotzes wünsche ich konkret noch viel Erfolg.
Viele Grüße von einem wehmütig scheidenden Leser

 


[1]  Selber neugierig wie ein Klatschreporter oder Philosoph.
[2]  Brennende Autos - und seien sie vor der Brandstiftung noch so neu und chic gewesen - verwandeln sich durch den elementaren Vorgang des Brennens sehr schnell in Wracks, wodurch "brennende Autowracks" dann zu "weißen Schimmeln" werden, wenn man nicht ausdrücklich Autos meint, die vor dem Anzünden schon hin und kaputt waren.
[3]  Die Auflösung des "Unterschiedes von Subjekt und Objekt" lasse ich mal draußen vor. Subjekt-Objekt-Verschmelzung hört sich immer grandios und wahnsinnig bedeutungsvoll an, irgendwas Sinnvolles habe ich mir unter diesem Begriff noch nie vorstellen können.
[4]  Denk' ich mir jedenfalls, daß Nauert das sagen will. Tatsächlich sagen tut er ja weder dies noch irgendwas.
[5]  Bloß mit dem Unterschied, daß ich mir keinen Nauert-Artikel mehr reinziehe.
[6]  Ich habe ja eigentlich gar nichts gegen diesen Film. Ich kenne diesen Film so wenig wie ich Kathryn Bigelow kenne. Ich hoffe nur, ihre Filme sind um Größenordnungen besser als Nauerts Rezension.